UKRAINE

Seit 24.02.2022 findet in Europa ein bis vor kurzem unvorstellbarer Krieg statt, der völlig sprachlos macht. Der rigorose Truppenaufmarsch des russischen Militärs an der Grenze der Ukraine im Vorfeld, hat schon darauf hingewiesen, dass da etwas passieren wird – trotz der Dementis von Wladimir Putin und Sergej Lawrow. Die – nach russischer Sprachvorgabe – „Militäroperation“ hat das Ziel, die Ukraine von Faschisten zu befreien und zu entwaffnen sowie die Anerkennung zu erzwingen, dass die Krim sowie die Donbassregionen Donezk und Luhansk zukünftig nicht mehr dem ukrainischen Staatsgebiet angehören.

Ich wollte mehr über die Hintergründe des Konfliktes wissen und habe im 179. VOR ORT Beitrag mit mit der gebürtigen Ukrainerin Oksana Stavrou, einer Juristin, die in Wien lebt und als Unternehmerin tätig ist, ein Telefongespräch geführt. Recht gut kann ich mich noch an den Aufsatz des russischen Staatschefs Wladimir Putin erinnern, den ich im letzten Jahr gelesen habe und in dem er Russen und Ukrainer als ein Volk und ein geeintes Ganzes beschrieben hat. Was will er damit sagen, war mein Gedanke? Er bezog sich auf die offizielle Linie des russischen Reiches 1917 auf das Modell einer russischen Nation, welches eben neben Russland auch die Ukraine und das heutige Belarus mit einbezog.

Ja schon dachte ich mir – aber inzwischen sind mehr als 100 Jahre vergangen, das Rad der Geschichte kann man in unserer komplexen Welt des 21. Jahrhunderts doch nicht einfach zurückdrehen? Doch genau das ist passiert … dass aber nun im Namen von Brüderlichkeit und Einheit eine sogenannte Befreiung auch unter einem Nazi Vorwurf stattfindet ist mehr als befremdlich, wenn nämlich gerade in urbanen Ballungsräumen wie Charkiw oder Mariupol wo beinahe ausnahmslos russisch gesprochen wird, die Zivilbevölkerung von ihrem Leben, ihren Besitztümern und ihrer Zukunft befreit wird.

Es gibt meinerseits einen persönlichen Bezug zur Ukraine: Meine Großeltern mütterlicherseits sind 1903 und 1905 im damaligen Galizien geboren, welches seinerzeit zu Österreich-Ungarn gehört hat. Der Geburtsort des Großvaters war Brody, jener der Großmutter Tarnopol. Als sich im 2. Weltkrieg die Rote Armee dem heutigen Lviv – also Lemberg näherte – wo der Großvater als Gutsverwalter des Bischofs tätig war – flüchtete die damals 5köpfige Familie – nach Westen. 1993 habe ich gemeinsam mit meiner Frau Hannelore, deren Großmutter mütterlicherseits auch aus der Umgebung von Lviv stammt, die Westukraine besucht, um einen Eindruck aus diesem Land zu bekommen, aus dem ein Teil unserer Wurzeln kommt.

Christian Aichmayr

Das Interview in der vollen Länge dauert 80 Minuten – in VOR ORT 179 ist es um 35 Minuten kürzer. Auf dieser Seite hinterlege ich den link für die lange Version (VOR ORT 179a) wie auch die kurze Version (VOR ORT 179).

In der Tageszeitung „Die Presse“ erschien am 07.04.2022 nachfolgender Artikel von Oksana Stavrou. Sie hat mir gestattet, diesen zu posten:

„Über die russische Seele“ – mein gestriger Gastkommentar: Warum der Westen nicht auf die Revolte der russischen Soldatenmütter hoffen sollte. Aus der Sicht einer Ukrainerin:

Vor Kurzem habe ich mit einem mir nahestehenden Menschen über das Massaker in Butscha gesprochen, bei dem über 400 Zivilisten von der russischen Armee umgebracht und teils auf der Straße liegen gelassen, teils in einem Massengrab beigesetzt wurden. Ich war, wie schon so oft seit Ausbruch dieses Krieges fassungslos und emotional sehr betroffen. Auch er konnte die richtigen Wörter nicht finden. „Aber warum? Warum haben sie es getan“, hat er gefragt. Es ist die falsche Frage. Sie suggeriert, dass es eine logische Antwort gibt, einen rechtfertigenden Grund, Hunderte unbewaffnete Menschen zu töten. Diesen Grund gibt es nicht.

Um sich dieser Frage trotzdem irgendwie zu nähern, muss man weit ausholen und mit der so genannten „russischen Seele“ anfangen.

In Russland ist ein Menschenleben wenig wert, seit Jahrhunderten schon und jeder einzelne russische Krieg, bei dem die Regierenden die teilweise miserabel ausgerüsteten und nicht vorbereiteten Soldaten auf die Panzer oder in den sicheren Tod schickten, ist grausamer Beweis dafür. Das befürchtete russische Kanonenfutter gab es schon immer zuhauf. „Die Weiber werden noch gebären“, besagt ein bizarres russisches Sprichwort – über die eigenen Opfer, wohl gemerkt. Um die Opfer „des Feindes“ ist es noch schlechter bestellt.

In Russland glaubt man schlicht nicht daran, dass ein Menschenleben besonders wertvoll ist. Die Europäer glauben daran aber sehr wohl – der israelische Historiker und Philosoph Yuval Noah Harari spricht vom „Humanismus als Religion“. Und wenn etwas nicht besonders wertvoll ist, dann finden sich schnell Gründe, es zu opfern, „für einen anderen Zweck“. Warum man in Butscha Hunderte wehrlose Zivilisten umgebracht hat? Nach der russischen Logik hätten mehrere Umstände einen legitimen Grund bilden können: man wollte den Widerstand brechen, ein Exempel statuieren, eine Racheaktion durchführen.

Gerade da steckt die größte Gefahr für die zivilisierte Welt von Seiten Russlands: die Wertedivergenz. Über Werte diskutiert man nicht, man hat sie. Und wenn man an bestimmte Werte nicht glaubt, sind Appelle zu diesen Werten sinnlos.

Verallgemeinerung unzulässig: Vorgestern wurde ich höflich darauf hingewiesen, dass der Ausdruck „die Russen“ eine unzulässige Verallgemeinerung darstellt. Im Kontext des Krieges soll man über „Putin“ oder „russische Armee“ oder „Kriegstreiber“ sprechen, aber nicht über „die Russen“. Denn nicht alle Russen sind böse. Natürlich nicht. Man muss in Russland auch gar nicht böse sein, um zu töten oder dem Töten zuzuschauen. Diesen Widerspruch zu überwinden, hilft der in Russland sehr verbreitete Fatalismus – ein anderes Wort für die Ohnmacht. Ja, es stimmt, es ist traurig, einen geliebten Sohn in der „Spezialoperation“ zu verlieren. Aber so sei nun mal das Leben. Irgendwann stirbt man. Der Sohn hat seine Pflicht getan. Manchmal gewinnt man dadurch, manchmal verliert man.

Dieser Fatalismus macht auch alle Hoffnungen des Westens auf die Revolte der russischen Soldatenmütter zunichte. Nein, ihre Trauer wird sich nicht gegen die Mächtigen wenden. Auch diese würden nur der inneren Logik des Weltgeschehens folgen, denn das Leben bestehe aus Schmerz und Macht. Wer das Eine will, muss das Andere in Kauf nehmen. Dieser Glaube ist einer der tragenden Pfeiler der „russischen Seele“, es ist das, was „die Russen“ ausmacht und die russische Geschichte, Kultur und Alltag durchdringt.

Ich glaube, ich werde weiterhin „die Russen“ sagen und hoffen, dass dieser Ausdruck irgendwann doch eine lebensbejahende Bedeutung erlangt. Oksana Stavrou

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